Das Sterben ist, wie eine Geburt, wie aber auch der Schlaf, ein Vorgang, der in Phasen abläuft.

Und je länger es dauert, desto mehr wird dieses Sterben zu einer spirituellen Sitzung. Einer schamanischen Erfahrung.

Sieht man einem sterbenden Menschen zu, der außer hochdosierten Opiaten keine weitere Versorgung mehr bekommt, dann ist es, als würde man einem Menschen zuschauen, der sich auf einer langen Wanderung, vielleicht sogar einer archetypischen Heldenreise befindet.

Da gibt es mühsame Phasen, in denen man ächzt, stolpert, keucht. Dann ruhigere, angenehme Geradeaus-Phasen. Dann wieder Unsicherheiten, Blick auf die Uhr oder die Landkarte. Später kleine Sprints, dann wieder Pausen, aber auch Rast und Einkehr.

Und über all diesem liegt der regelmäßige Atem. Mal tief und langsam, mit Fermaten dazwischen. Mal schneller und stoßweise. Über all dem liegt auch das wechselseitige Heraustreten aus dem Krankenzimmer, das Kaffeeholen, das Einerauchen, das Diefüßevertreten.

Mal scheint dem Wanderer das Ziel vor Augen, nur wenige Meter entfernt, dann wird klar, dass dies nur Luftlinie ist, man aber in Wahrheit vielmalige Berge und Klippen umrunden muss. Auch gibt es hier und da eine Fata Morgana.

Man stützt den Wanderer, von beiden Seiten. Befeuchtet seine Lippen, programmiert den Opiat-Perfusor und leistet ihm liebevolle Gesellschaft. Die Angst vor dem Ekligen, Erschreckenden, Unerwarteten weicht peu à peu einer tiefgehenden Erschöpfung, aber auch einer Akzeptanz, einer spirituellen Gesamtstimmung. Das archaische Ritual der Sterbendenwache, es bekommt tiefe Sinnhaftigkeit, wenn man es mit den richtigen Menschen gemeinsam macht. Die richtigen waren da, die falschen waren weg. Es war gut.

Am 26. März 2011 um 04:16 Uhr in der Früh hatte er es geschafft. Er war angekommen. Und ich war froh über jede Sekunde, die ich mitbekommen hatte. Den Dank in seinen Augen. Das intime, letzte, zutiefst ehrliche Zwiegespräch.

Mach’s gut, Alter.




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